„Dieses Selfie ist ein Roman!“

Artikel von Harald Loch in div. ZEITUNGEN

7/2022

Dieses Selfie ist ein Roman! Andreas Fischer, Jahrgang 1961, legt nicht sich
selbst auf die Couch des Analytikers, sondern die noch pubertierende
Bundesrepublik. Sein Roman „Die Königin von Troisdorf“ taucht so tief in die
Familiengeschichte des Autors ein, dass es wehtut – wie die Ohrfeigen, die er
als Junge manchmal bekommen hat. Die Zeit war autoritär und seine Eltern,
seine Großmutter, Onkel und Tanten, die Gesellschaft im rheinischen Troisdorf
waren autoritär, so dass es noch beim Lesen schmerzt. Es waren ganz
Unverbesserliche unter ihnen, die Deutschland „über alles“ liebten, die den
vergangenen 1000 Jahren nachtrauerten, dass sie nur 12 Jahre gedauert
hatten, für die die Kriegsgefallenen der Familie immer noch Helden waren, und
die erleben mussten „wie der Endsieg ausblieb“ – so der Untertitel. Für sie
wurde, als das Hakenkreuz verschwand, die Mark das Maß aller Dinge.
Der Autor machte, wie schon sein Vater, eine Fotografenausbildung, studierte
Filmwissenschaft, Ethnologie und Psychologie und drehte später etliche
Dokumentarfilme fürs ZDF und den NDR. Er schreibt mit einer natürlichen
Begabung für guten Stil. Er schneidet seine Romanerzählung in 60 Teile, die er
nicht chronologisch, sondern nach seiner selbstgewählten Dramaturgie ordnet.
Das verstört den durch schreibschulgeföhnte Literatur Verwöhnten im ersten
Augenblick, überzeugt aber umso mehr, je weiter der Roman fortschreitet.
Meist steht der Junge Andreas im Mittelpunkt. Er leidet an seinem Vater, der
abends, wenn er aus seinem gutgehenden Fotogeschäft nach Hause kommt, bis
zum Vollrausch Schnaps trinkt. Er leidet an seiner Mutter, die dem Geschäft mit
Fleiß und Sparsamkeit zur Blüte verhilft, sich aber kaum um ihren Sohn
kümmert. Er leidet unter seiner Großmutter, die oben im selben Haus wohnt
und ihn nicht leiden kann. Sie wird von Arbeitern, die sich von ihr beobachtet
fühlen, als „Die Königin von Troisdorf“ karikiert. Er leidet unter der mitleidlosen
Frömmigkeit von Mutter und Großmutter, unter Lehrern und Mitschülern,
unter Onkel und Tante. Aber er entwickelt sich, liebt es, wenn sein in vielen
Dingen sehr geschickter Vater sich mit ihm beschäftigt. Doch nach dem, was in
der Schule passiert, fragt der nie.
Dieser Entwicklungsroman ist traurig und berührend, zeigt alles, was Eltern
falsch machen können. Aber Andreas trifft in reiferem Alter auch schöne,
versöhnlichere Töne. Unversöhnlich bleibt er gegenüber dem militaristischen
Geist im Hause, gegenüber der politischen Unverbesserlichkeit und gegenüber
Rassismus in den Gesprächen der Familie. Zwei mögliche Onkel sind im Krieg
gefallen. Beide waren glühende Nazis. Sein eigener Vater leugnet den
Holocaust, in der Schule lernen sie das Gegenteil. Was ist wahr, Vaters Version
der Geschichte oder die der Lehrerin? Der Autor breitet seine eigeneEntwicklung und die Familiengeschichte vor dem Hintergrund der Gesellschaft
in der rheinischen Kleinstadt aus. Es ist wie ein künstlicher Hintergrund, der
seinem Vater im Fotogeschäft für besonders ausdrucksvolle Porträts dient. Nur,
dass der gesellschaftliche Hintergrund nicht künstlich, sondern real ist.
Eigentlich schreibt Fischer einen Antikriegsroman aus seiner Perspektive als
Kriegsenkel. Erst ein pensionierter General, den er als Ersatzdienstleistender
pflegt, erkennt seine Kriegsdienstverweigerung richtig an. Erst ein fremder
Kriegsveteran vertraut Andreas an, dass allen vieles erspart geblieben wäre,
wenn es mehr Menschen so wie ihn gegeben hätte. Fischer schreibt das alles
ohne erhobenen Zeigefinger oder ideologische Ermahnung an den Leser. So ist
es gut erzählt und wird seine Wirkung nicht verfehlen. Man muss dem Buch,
gerade in Kriegszeiten, viele Leser wünschen.


Harald Loch, Juli 2022