Rezension von Sophie Pannitschka (Bislang unveröffentlicht)

5/2022

„Einer von deiner Sorte hat uns gereicht“ sagt Mutter.
Andreas Fischer (2022). Die Königin von Troisdorf. Wie der Endsieg ausblieb. eschen 4 verlag.


Wie sind Kinder in den 60er und 70er Jahren im Nachkriegsdeutschland aufgewachsen, wie gehen Familien miteinander um? Was bedeutet Herkunft, Familie und Heimat? Welche Erschütterungen können transgenerational weitergegeben werden und wie können Erwachsene ihr seelisches Potential wachsen lassen, wenn sie es nicht in die Wiege gelegt bekommen haben? Welche Folgen haben die tiefen Einschnitte im gesellschaftlichen und kollektiven Leben für das Individuum?


Fragen, um die es untergründig auf 473 Seiten geht. Der Ich-Erzähler, Andreas Fischer, präsentiert horizontal autobiografische Erinnerungsvignetten, hauptsächlich aus Kindheit und Jugend. Schauplätze, Szenen und Sequenzen werden kurz, knapp und konkret geschildert – und nicht interpretiert. Zeitlich bleibt der Autor beim Ereignis, nur in ganz wenigen Fällen werden die Ränder einer Erinnerung überschritten und Zusatzinformationen gegeben.


Auf diese Weise wird das Leben des Protagonisten sichtbar und erlebbar: nüchtern, direkt und ohne Schnörkel wird es beschrieben. Durch das familiär dicht gewebte Netzwerk, Mutter, Vater, Tante, Onkel und vor allem Oma Lena – die Königin von Troisdorf! – zeigt sich eine Atmosphäre der grauen Nachkriegsjahre und des bunten Wirtschaftsaufschwungs in der kleinen rheinländischen Stadt. Das Leben in Familie Fischer bleibt allerdings unter dem äußeren Schein fad, da die unterschiedlichen Akteure der Gabe des Gesprächs nicht habhaft sind und ihr Tun und Lassen auf das häusliche Leben sowie auf das Fotogeschäft beschränken. Nur das Sichtbare an der Oberfläche zählt, obgleich das Netzwerk um den Protagonisten herum gerade aus der unsichtbaren Tiefe heraus agiert – mitunter geht es da recht rüde zu.


Dennoch sind es sowohl die ausgesprochenen als auch die verschwiegenen Worte, die das Leben und damit die Sozialisation des kleinen Jungen bestimmen. Fragen und nicht oder speziell gegebene Antworten leiten ihn durch seine Kindheitsjahre. Die Welt ist groß und weit, das Leben überraschend und aufregend, das ahnt der Protagonist recht früh – in Troisdorf bleiben die Möglichkeiten aber überschaubar und geordnet, der Himmel reicht dort nicht bis ans Ende des Firmaments. Der Schein und die äußeren Werte und Normen, die die Familie für sich reklamiert, sind ob ihres Gewichts unumstößlich – Gefühle, Sehnsüchte und Hoffnungen gibt es nicht.


Die autobiografischen Erinnerungsvignetten werden durch kleine Erzählungen bereichert, wenn es an die Generation der Familienmitglieder geht, die der Autor nicht mehr kennen lernen konnte. Hier befragt er Verwandte und benutzt Material aus dem Archiv. Aber auch diese Darstellungen bleiben knapp, was dazu führt, dass im Lesenden umso mehr Fragen und Gefühle entstehen. Ein unbequemes und deshalb sehr zu empfehlendes Buch, das die Jahre 1914 bis 2014 umfasst und zeigt, welche Nachwirkungen die beiden Kriege haben können, wenn der Himmel nicht bis zum Boden reicht.


Für mich als Lesende hatte das Buch eine Sogwirkung. Das Lesen der nüchternen Szenenbeschreibungen an der sichtbaren Oberfläche haben danach verlangt, von den Folgen zu erfahren, die in die Tiefe gehen. Was macht es mit einem Kind, wenn es so kalt und sachlich erzogen wird? Wenn der Vater zu Hause hauptsächlich alkoholisiert anzutreffen ist? Die Mutter nicht ohne ihre Eichenschrankwand zu denken ist und die Oma ein dickes Fragezeichen entstehen lässt? Das aber erfahren wir bis zum Ende nicht. Diese Unruhe entfachenden Bilder sind die Stärke des Buches und gleichzeitig unerlöste, unbequeme, vertikale Ausrufezeichen.


Die Königin von Troisdorf bleibt im Dunklen und gehört gefangen der Vergangenheit an, das Buch ist ein Aufruf das Leben bunter, wärmer und liebevoller zu gestalten, um sich seelisch zu weiten und selbstbestimmt zu agieren, auch, wenn die Kindheit grau, eng und unverständlich war.


Mai 2022, Sophie Pannitschka