Bestimmte Rituale in der Familie stehen für Aufmerksamkeit und Liebe, die man sich in diesem Verbund wechselseitig erweist. Wer zum eigenen Geburtstag zumindest von der Tante einen Kuchen erhält, möchte dieses Ritual gerne auch Vater und Mutter gegenüber erweisen. Der Vater verbietet sich grundsätzlich jede Erwähnung, geschweige denn die Feier seines Geburtstags. Die Mutter hat, als ihr der Junge zum Geburtstag den Tisch gedeckt hat, nichts besseres zu tun, als die von ihm liebevoll geschmierten Brote mit Zucker in den Mülleimer zu schmeißen.
Solcherart ist die organisierte Lieblosigkeit, die in Andreas Fischers autobiographischen Roman „Die Königin von Troisdorf” herrscht. Der in dieser Industriestadt heranwachsende Andreas muss sich gegen gleich 6 Erwachsene behaupten: Mutter Ilse, Inhaberin eines Fotogeschäfts, der Vater, meist hinter Zigarettenqualm und Suff verborgen, Oma Lena, Opa Paul, Tante Hilde und Onkel Bruno. Besonders einflussreich in diesem System zeigt sich das Duo aus Großmutter Lena und Mutter, die alle wichtigen Entscheidungen treffen. Wohlgemerkt: Wir schreiben die 60er Jahre! Omas Ruf reicht auch über den Haushalt der Familie hinaus. Sie maßregelt auch die Nachbarschaft, weshalb sie den Spottnamen „Königin von Troisdorf” erhält.
Schon der 8jährige Andreas stellt Überlegungen an, woher dieser „ein(en) bestialischen Gestank” verbreitende allgegenwärtige „Hass” herrührt. Keine Gelegenheit, den Jungen zu erniedrigen, wird ausgelassen: Er wird als „Köttel” oder als jemand, den „man mit dem Kopp gegen die Wand klatschen” sollte, angesprochen. (Gelegentlich musste ich mir beim Lesen von soviel Schwarzer Pädagogik am Stück klar machen „Er hat es überlebt”. Die positive Schlussfolgerung lautete: Bei allem, was meine Eltern an mir und meinen Geschwistern falsch gemacht haben mochten: Sie zeigten uns grundsätzlich vor allem Zuwendung. Das Maßregeln und Herabsetzen war die Ausnahme.)
Die Herkunft des Hasses bringt die zweite Erzählebene ins Spiel. Fischer beschreibt, häufig von Brieffunden oder anderen Dokumenten ausgehend, den militaristischen Subtext dieser Familiengeschichte. Für diese steht der Untertitel des Romans Wie der Endsieg ausblieb. Hier geht es um solche Fragen: Wie haben Wehrdienst und Kampfeinsatz der Männer der Familie deren Denken und Leiden geprägt? Welche Ideologien von starkem Vaterland haben die Männer dazu gebracht, ihren Kriegsdienst nicht vornehmlich überleben zu wollen, sondern geradezu todesversessen zu sein?
In dieser Hinsicht berühren besonders im Roman zitierte Briefe des 1942 in Russland gefallenen Onkels Günther. Immer wieder schreibt er von seinen Bemühungen, nicht weiter Ausbilder zu sein, sondern zur kämpfenden Truppe zu kommen. Er jiepert geradezu nach seinem Tod, der ihn dann auch mit der zu erwartenden Wahrscheinlichkeit ereilt.
Frauen sind in dieser Denkwelt nur Dekoration und wahlweise besorgte Mütter oder Liebhaberinnen. Vielleicht ist der „Hass”, der dem heranwachsenden Andreas entgegen gebracht wird, die Kehrseite dieses Ausgeliefertseins der Frauen. Wenn sie nicht aktiv und vielleicht sogar politisch Front gegen alles militaristische Denken machen, können sie zumindest die moralische Keule auspacken. Alles Männliche wird – auch außerhalb von Krieg und Militär – abgrundtief gehasst und Männer verachtet.
Andreas Fischers Roman bringt es auf 470 Seiten. Formal ist dieses Buch eher sperrig. Ein Staccato aus meist nur kurzen, häufig ein bis zwei Seiten umfassenden Texten durchblättert das Familienarchiv und Fischers Erinnerungen. Die Verschränkung von Vorzeit und Jetztzeit der Troisdorfer Gegenwart lässt kein bestimmtes Schema erkennen. Trotz dieses dokumentarischen und distanzierenden Ansatzes hat Fischer mich durch die nüchterne, aber liebevolle Sicht auf den Jungen, der er mal selbst war, gefesselt. Ein übergeordnetes Thema könnte mit dem Stichwort „Transgenerationales Trauma” beschrieben sein. Nicht nur die beschädigenden Kriegserfahrungen der Männer aus dem 1. und 2. Weltkrieg werden weitergereicht. Auch die Fühllosigkeit einer Freundin, die den Ich-Erzähler der Jetzzeit trotz einer akuten Nierenkollik im Stich lässt, passt zu sehr in das Schema der Kalten Frau als Komplement zu der offen gewaltsamen Männerkultur. Das Buch ist jetzt aber keineswegs tristesse pure. Auch Ereignisse, die lustig oder verblüffend sind oder zum Vergleich mit der eigenen Biographie anregen, haben ihren Platz. Unerwartet, aber um so wichtiger, findet der Vater sogar zu einem Akt väterlicher Solidarität dem Sohn gegenüber. Unbedingt lohnende Lektüre!
https://juenger.koeln, Abgerufen am 23. Dezember 2023